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Weihnachtsbaum mit kleinen Büchern als Schmuck.

Hier kommen unsere Freunde aus dem Café wieder zusammen, es sind drei Monate vergangen, seit ein Punk, eine Schriftstellerin, eine alte Dame und ein Obdachloser aufeinander trafen. Wie werden sie ihr erstes Weihnachtsfest zusammen verbringen?

Festtagseinkäufe

„Mein Gott, Mädchen! Willst du halb Hamburg einladen?“, fragt Mike mit hochgezogenen Augenbrauen, als ich den riesigen Korb voll mit Zutaten auf den Tisch stelle.

„Da ist noch einer im Auto, holst du ihn mal kurz?“, sage ich und massiere mir die schmerzende Schulter. Vielleicht habe ich tatsächlich etwas übertrieben beim Einkauf, aber es ist immerhin das erste Mal, dass ich ein Weihnachtsfest bei mir zu Hause veranstalte.

Mike trottet hinaus, während Henry um meine Füße herumwuselt. Ich greife in eine der Keksdosen auf der Kücheninsel und halte ihn einen Keks hin. Der große Rüde beweist wie immer große Sanftmut und nimmt sich den Keks vorsichtig aus der Hand, bevor er damit rasch im Wohnzimmer verschwindet.

Ein anerkennendes Pfeifen hinter mir lässt mich aufschrecken und ich drehe mich um. Mit einem Weidekorb bewaffnet steht ein Mann mit blaugrünen Haaren und mit gefütterter Lederjacke, den Schottenschal bis über die Nase gezogen, in der Küchentür und betrachtet den Einkaufskorb.

„Platz da Freddy, du tust mal wieder im Weg stehen!“, grunzt Mike der den zweiten Teil meines Kaufrauschs in den Armen hält. Freddy, oder eigentlich Frederick Berger, kommt rasch rein und lässt Mike Platz. Sorgfältig schließt er hinter Mike die Tür, bevor er seinen eigenen Korb neben der Spüle abstellt. Ich erinnere mich, dass er uns den besten Nachtisch „der ganzen Galaxie“ zum Fest machen wollte.

Während ich die Einkäufe einräume, denke ich über die letzten drei Monate nach. Aus einer mir unbegreiflichen Laune oder in einem Anflug des „Freddy Effekts“ – wie Freddy es selbst nennt – habe ich Mike angeboten zu mir zu ziehen, in das alte Haus meiner Großmutter. Er bewohnt nun die alte Einzimmerwohnung im zweiten Stock, wobei wir eigentlich eher zu einer WG zusammengewachsen sind. Am Anfang war Mike misstrauisch, doch auch hier hatte unser Wunderpunker einfach nur ein paar Worte mit Mike gewechselt und sein Misstrauen war geschwunden.

Seit Mike bei mir wohnte, sorgte er für mein alltägliches wohl. Er kochte und putzte und erinnerte mich daran, auch noch, außer schreiben etwas anderes zu tun. Seit ich aufgehört hatte Groschenromane zu schreiben und mit meinem Verleger geklärt hatte, dass er mir 6 Monate für einen wirklich guten Roman gab – ansonsten würde er mich aus der Anstellung entlassen – schrieb ich wieder mit einem inneren Feuer. Meine Leidenschaft zur Schriftstellerei war aufgeblüht und nicht selten saß ich, jegliche körperliche Bedürfnisse ignorierend, von Früh bis spät am Laptop.

Mike hatte nun dank einem festen Wohnsitz und etwas Hilfe bei den Behördengängen jeden Monat eine sichere Rente, sogar nicht zu knapp. Vor seiner Rente war er Jahrzehntelang bei einer Bank auf mittlerer Gehaltsstufe angestellt gewesen. Nach dem Verlust seines Wohnsitzes durch einen hinterhältigen Trick der Hausverwaltung, hatte er den Halt verloren und war auf der Straße gelandet.

Er hatte keine Kinder oder Enkel, die ihn hatten auffangen können, und war von allein nicht wieder auf die Beine gekommen. Jetzt zahlte er mir freiwillig eine kleine Miete und machte uns beiden das Leben angenehm. Für ihn sei es ein Vergnügen hier bei mir gebraucht zu werden.

„Also, wir drei und Edeltraut. Außerdem hast du noch deine Eltern eingeladen und deinen Bruder. Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Mike, während er Dinge in die Schränke und auf den Arbeitsplatten verteilte.

„Ja, meine Mutter hat zwar einen tierischen Aufstand gemacht, aber mein Vater findet es gut.“

„Und du?“, fragte Freddy, während er anscheinend irgendwelche Früchte in der Spüle abwusch.

Ich lachte und schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, ob ich es gut oder schlecht finden soll. Ihr seid jetzt Teil meiner Familie und ich hoffe der andere Teil versteht das. Ich will nicht ohne euch feiern!“

Den Rest der Zeit machten wir uns schweigend an die Vorbereitungen, ich hatte als Weihnachtsessen ein Rehgulasch geplant. Das könnten wir bereits heute vorbereiten und Morgen dann nur noch die Beilagen für diese kleine Armee vorbereiten. Um es meiner Mutter etwas einfach zu machen, hatte ich dann auch nach dem deutlich teureren Reh gegriffen, anstatt einfach Rindfleisch zu besorgen.

Für Freddy würde es ein vegetarisches Gulasch geben. Also im Grunde einen Paprika-Pastinaken-Eintopf. Er hatte schon die Nase gerümpft, als ich ihn das Menü mitteilte und sich anschließend wie ein kleiner Junge gefreut, dass ich an ihn gedacht hatte. Obwohl er nicht offiziell mit in der Wohnung wohnte, ging auch er inzwischen fast täglich hier ein und aus. Meist kam er nach der Arbeit vorbei, wenn er mich nicht im Café antraf und brachte mir irgendeinen Eisbecher mit.

Und Edeltraut, die liebe alte Dame mit ihren edlen Hüten, war nun tatsächlich Mikes Freundin geworden. Sobald Mike alles geregelt hatte und sich neu eingekleidet hatte, hatte er sie ins Theater eingeladen. Ein gemütlicher Abend auf Plattdeutsch und ein paar Essen beim Italiener später, waren die beiden offiziell ein Paar geworden. Auch die Beiden Hunde Henry und Törtchen verstanden sich.
Der Mops hieß tatsächlich Törtchen, wobei ich mich noch nicht getraut hatte nach dem Ursprung zu fragen.

Im Flur fing das Telefon an zu klingeln und ich trottete fix zu meinem altmodischen Apparat.

„Hi?“, fragte ich in den Hörer, während ich nach den Lakritz-Bonbons auf der Kommode griff.

„Anni? Oh gut, dass ich dich erwische. Sag mal, ich würde morgen gerne wen mitbringen. Bei dir erscheint mir das weniger gefährlich als bei unseren Eltern zu Hause.“

Völlig eloquent ertönte ein langgezogenes „Hä?“, von mir und ich fragte mich was er den an dem Haus unserer Eltern gefährlich fand.

„Ich will jemanden mitbringen, also jemand speziellen…“, führte mein Bruder Ben weiter aus und ich runzelte die Stirn. Er hatte gar nichts von einer neuen Freundin erzählt.

„Deine Freundin? Seit wann hast du denn eine?“

„Also ich möchte meine Beziehung mitbringen, ja, es ist keine Sie und wir sind schon eine Weile zusammen.“

„Oh, ein Mann? Und was meinst du mit einer Weile? Und warum erfahre ich erst jetzt davon?“

„Um letzteres zu beantworten, weil du erst seit ein paar Monaten ein Herz zu besitzen scheinst“, verkündete mein Bruder trocken und ich schnappte hörbar nach Luft. Also wirklich! Ich war vielleicht etwas langweilig gewesen und sicherlich nicht der angenehmste Umgang, aber ich war doch kein herzloses Biest gewesen und ich war nicht intolerant gewesen. Es war mir nur schlichtweg egal, wer welche Liebesbeziehungen führt. Wahrscheinlich war ich etwas gleichgültig gewesen.

„Okay. Okay. Als erstmal vorweg: Ich freue mich denjenigen kennenzulernen, der meinen großen Bruder glücklich macht. Und unsere Eltern kommen damit hoffentlich auch klar, sie wissen es auch nicht, oder?“

„Ich habe‘ mich nie getraut. Hier in Kiel wissen unsere Freunde Bescheid, aber es wird Zeit es auch vor der Familie offiziell zu machen. Ich will mich nicht mehr verstecken und ich will Leon nicht verlieren, nur weil ich nicht den Mut habe mich meiner Familie zu stellen“, wurde mein Bruder immer leiser.

„Seid ihr schon im Hotel? Kommt heute zum Abendessen und dann könnt ihr das Gästezimmer haben. Du verlierst hier niemanden. Ich freue mich ihn kennenzulernen. Irgendwelche Besonderheiten beim Essen?“, fragte ich noch geistesgegenwärtig als ein blaugrüner Haarschopf im Türrahmen mit fragenden Augen im Türrahmen auftauchte.

„Er ist Vegetarier und ich eigentlich auch“, seufzte mein Bruder entschuldigend.

„Kein Ding, Freddy auch. Bis gleich dann!“, trällerte ich ins Telefon und die überraschte Frage, wer denn Freddy sei, ignorierte ich gekonnt. Meine Familie wusste nur, dass ich dieses Weihnachten mit meinem neuen Untermieter feiern wollte. Dessen Namen kannten sie jedoch.

Immer noch musterten mich strahlend grüne Augen neugierig. Rasch brachte ich ihn auf den neuesten Stand und folgte ihn in die Küche. Mike war bereits mit dem Kochen beschäftigt und war über die Neuigkeiten genauso wenig schockiert wie Freddy. Trotzdem wusste ich, dass meine Eltern nicht nur recht konservativ, sondern auch sehr verbohrt sein konnten. Für mich war nun wirklich jede Reaktion möglich, wobei ich vielleicht mit meinen neuen Freunden eine gute Ablenkung für einen schwulen Sohn sein konnte. Zudem war dies mein Haus und nicht das meiner Eltern.

„Krieg ich dann heute das Sofa? Wenn das Gästezimmer schon belegt ist?“

Ich drehte mich zu der Stimme um und stieß quasi nahezu mit Freddy zusammen, der mir neugierig über die Schulter geschaut hatte, um ein paar Streifen Paprika zu stibitzen. Einen Moment blickte ich ihn perplex an und erst, als er sich mit einem frechen Grinsen ein Stück Paprika in den Mund schob, setzten meine Gedanken wieder ihre normale Arbeit fort.

„Aber dann das Schlafsofa in meinem Arbeitszimmer. Da habe ich auch noch frische Bettwäsche drin.“

Bruder + 1

„Da sieht man sich mal ein halbes Jahr nicht und meine Schwester schmeißt ihr ganzes Leben um, Miss Routine folgt einen anderen Plan… Wow!“, stieß mein Bruder aus, nachdem er sich die Zusammenfassung der letzten Monate angehört hatte. Ich zog die Augenbraue hoch und musterte ihn grimmig. Diesen Spitznamen hatte ich schon früher gehasst, schließlich war an ein wenig Routine nichts Schlimmes.

„Naya, und du bist ‚plötzlich‘ schwul“, stellte ich trocken fest und setzte die Zeitangabe mit den Fingern in lächerliche Gänsefüßchen, während ich den blondlockigen Strahlemann Namens Leon angrinste. Mein Bruder hatte sich einen wirklich großartigen Freund gesucht, da konnte man nur neidisch sein. Die beiden schienen glücklich miteinander zu sein und nachdem mir mein Bruder erklärt hatte, dass er den schmerzhaften Ausdruck in Leons Gesicht nicht mehr ertrug, wenn ein Besuch bei unseren Eltern anstand, wusste ich, dass seine Liebe zu diesem Mann echt war.

„Was Annabel gefehlt hat war eine gute Portion Chaos in ihrem Leben. Danach gings eigentlich ganz fix mit dem anderen Plan“, verkündete das Chaos in meinem Leben und ich verdrehte die Augen. Alle lachten und insgesamt wurde der Abend zu einem entspannten Erlebnis.

Während die anderen zusammen im Wohnzimmer den riesigen Baum schmückten, denn ich vor ein paar Tagen besorgt hatte, brachte ich das Geschirr in die Spülmaschine. Mein Bruder kam mir hinterher und hielt mich am Ärmel fest.

„Ich hatte wirklich Angst. Danke, dass du sie mir genommen hast.“

„Egal was passiert, du bist mein Bruder. Ich habe dich lieb, immer“, sagte ich zum ersten Mal in meinen Leben. Liebesbekundungen hatte es kaum in unserer Familie gegeben, doch inzwischen verstand ich, dass dieser Teil ebenso zu meinen Gefühlen gehört. Unsere Eltern hatte das Wort Liebe fast komplett aus unseren Familienwortschatz herausgehalten. Wenn zwei Menschen, die nicht in einer romantischen Beziehung zueinanderstanden, Liebesbekundungen austauschten, kämen ja sonst die Nachbarn auf dumme Gedanken.

„Ich dich auch“, erwiderte mein Bruder perplex und zog mich dann in eine lange Umarmung.

Als Henry anfing unruhig um uns herumzulaufen und leise winselnd an meinem Hosenbein zog, lösten wir uns und ich kraulte ihn beruhigend hinter den Ohren.

„Ich mag deinen Bruder“, stellt Freddy, während er sich auf das Sofa fallen ließ, welches ich ihn gerade ausgezogen hatte. Ich setzte mich auf die Bettkante und betrachtete die verschneite Landschaft. Es hatte tatsächlich noch geschneit. Wir hatten seit Jahren keine weiße Weihnacht bekommen und nun dieses Jahr war es Last-Minute-Snow sozusagen.

„Ich auch, und das ist mir erst heute bewusst geworden“, meine ich und starre weiter gedankenverloren aus dem Fenster. Im Wohnzimmer steht nun ein riesiger bunt geschmückter Weihnachtsbaum, Mike hatte in meinen Bruder sogar noch einen Schachspieler für den Abend gefunden und Leon hat nach anfänglicher scheu mit mir und Freddy fürchterlich schief Weihnachtslieder geträllert. Kein Vergleich zu den Vorweihnachtstagen der letzten Jahre.

Meine Eltern hatten den Baum bereits immer Mitte Dezember besorgt und beim Schmücken durften die Kinder nie helfen. Stattdessen hat meine Mutter den Baum immer passend zu den restlichen Möbeln geschmückt während ich noch in der Schule war. Auch die Geschenke waren farblich passend dazu. Wir Kinder sollten stets die Geschenke erst zur Bescherung herunterholen, damit das Bild nicht so lange gestört war.

Jetzt lagen bereits Geschenke in allen Größen und Farben unter den Baum. Da ich dieses Jahr ein paar Geschenke zu viel besorgt hatte, weil ich am Anfang nette Dinge besorgte, die eventuell ausreichen würden und anschließend großartige und passende Dinge noch entdeckt hatte, konnte ich sogar welche für Leon mit dazu legen.

„Träumerle, einen Euro für deine Gedanken“, murmelte Freddy und stupste mich an. Hochschreckend stand ich auf.

„Sorry, es ist schon spät. Ich geh dann mal ins Bett!“, verkündete ich und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Als ich die Tür schloss, sah ich noch, wie er selbst gedankenversunken aus dem Fenster starrte.

Ich hörte eine Tür, die sich öffnete und wenig später wurde es hell in meinem Zimmer. Grummelnd drehte ich mich um und wollte mir die Decke über den Kopf ziehen, doch schneller war das Gewicht, dass sich einfach am Rand niederließ und die Decke so fixierte.

Ich schlug grimmig die Augen auf und versuchte den Übeltäter zu identifizieren. Müde griff ich nach einen der vielen Kissen in meinem Bett und schlug mit einem extra flauschigen mit dicken Bommeln bestückten Exemplar nach Freddy, der es nur grinsend festhielt. Ich zog daran, doch er ließ nicht locker. Also zog ich fester.

Dieses Mal zog er zurück, knurrend riss ich dieses Mal am Kissen und mit einem überraschten laut landete er mit auf dem Bett. Vom Teufel geritten und noch nicht ganz wach seufzte ich zufrieden und legte mich einfach auf seinen Arm, welcher noch immer das Kissen festhielt. Müde döste ich wieder ein, während sich Freddy anscheinend nicht mehr zu bewegen traute. Nach ein paar Minuten realisierte mein wachwerdendes Gehirn, was ich gerade tat und ich schreckte hoch.

„Tut mir leid“, sagte ich rasch und setzte mich auf. Schnell rückte ich ein Stück von ihn weg weiter zur Wand. In verdrehte Position lag er da und seine grünen Augen musterten mich lediglich neugierig.

„Es ist schon recht spät, wir haben dich schlafen lassen“, murmelte er und legte sich dann bequemer hin. Er musterte mich und als er anfing zu grinsen, sah ich an mir herunter. Ich schlief meistens mit dicken Schlafanzügen oder Pullovern, doch letzte Nacht war ich nur in einem einfach Top ins Bett gegangen, welches mir anscheinend zu groß war. Die Hitze schon mir in die Ohren und ich zog meine Decke schnell hoch.

Auffordern klopfte Freddy auf mein Kopfkissen und ich legte mich tatsächlich wieder hin. Eine Weile musterten wir uns, wie wir es häufig taten, doch dieses Mal merkte selbst ich, dass etwas anders war. In den letzten zwei Monaten war er zu einem guten Freund geworden, aber in den letzten Tagen waren wir umeinander herumgeschlichen, wie zwei sich musternde Katzen.

Er hob die Hand und streichelte damit sanft meine Wange. Nicht einmal seit er sich das erste Mal in unserem Café an meinen Tisch gesetzt hatte, gab es Momente, in denen wir uns auf romantische Weise genähert hätten. Es war nie ein Thema zwischen uns gewesen, doch anscheinend machte der Glühwein, welcher zur Weihnachtszeit bei uns in rauen Mengen geflossen war, unsinnige Dinge mit uns. Er schien auf irgendeine Reaktion zu warten und als ich ihn vorsichtig anlächelte, beugte er sich zu mir herüber und gab mir einen vorsichtigen Kuss.

Es war ein vorsichtiger und fragender Kuss, anscheinend hatte er sich noch nicht rasiert, denn die Stoppeln kratzten sanft an meiner Lippe. Ich erwiderte den Kuss, während ich mich an seinem Arm festhielt. Vielleicht war es noch die Restmüdigkeit, auf jeden Fall hielt ich mich an seinem Arm fest, um den aufsteigenden Schwindel zu vertreiben. Spätestens als er den Kuss intensivierte und ich näher zu ihn rückte wusste ich, dass ich nun ein 1,92 Meter großes Problem in Form meines persönlichen Chaos hatte. Und ich hoffte, dass dieses Problem das ähnlich sah wie ich.

Irgendwann löste er sich von mir und stützte sich ab, sodass er nun leicht von oben herab mich mustern konnte.

„Das war das seltsamste, das ich dieses Jahr getan habe“, sagte er mit ruhiger Stimme und lächelte mich an.

„Noch seltsamer als die Hochzeit, auf der du letzten Monat mit Edeltraut aufgetaucht bist, um deinen Bruder zu schockieren?“, fragte ich amüsiert und gleichzeitig noch ein wenig verwirrt.

„Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis“, sagte er uns beugte sich zu meinem Ohr herunter, „das hier war tausendmal seltsamer und schöner als alles was ich bis jetzt dieses Jahr gemacht habe.“

Ich kicherte mädchenhaft und merkte wie mir daraufhin die Hitze ins Gesicht schoss. Mädchenhaftes Kichern zählte bestimmt nicht zu meinen normalen Verhaltensmustern.

„Wie spät ist es denn`“, fragte ich vorsichtig und zupfte an einer blauen Haarsträhne, die aus seinem lockeren Zopf geflohen war. Statt einer Antwort bekam ich einen weiteren Kuss. Er war fordernd und bittend gleichzeitig, geschrieben hatte ich schon über solch ein Gefühl, doch erlebt hatte ich es noch nicht. Nur zu gerne ließ ich dieses Gefühl auf mich einstürzen.

Elterliche Ankunft

„Seit wann bist du so ein Weihnachtsfan?“, fragte mein Bruder mit einem der großen Becher voll Kaffee in der Hand. Er betrachtete meinen neuen Pullover, denn Edeltraut mir geschenkt hatte mit einer Mischung aus Verwunderung und Angst.

Edeltraut hatte für Mike, Freddy und mich dicke Strickpullover angefertigt, welche nicht nur rot-grün geringelt waren, sondern einen Mops mit Weihnachtsmütze aufgestickt hatten. Ihr zu liebe und weil mir heute ohnehin nichts so leicht die Stimmung verderben konnte, hatte ich ihn gleich angezogen und dabei festgestellt, dass er unendlich gemütlich war.

„Schon immer“, behauptete ich frech und strahlte meinen Bruder an, während ich mir einen Kakao mit Schuss fertig machte. Meine Eltern hatten sich gemeldet, dass sie in ungefähr einer halben Stunde ankommen wollten. Einen Rum vorweg hielt ich als eine adäquate Vorbereitungsmaßnahme.

„Ich glaube ja, das hat ganz andere Gründe“, trällerte mein Schwager-in-Spe beim Hereinkommen in die Küche und füllt sich noch einen Kaffee nach. Mein Bruder sah ihn fragend und verwirrt an. Ich schwieg nur und flüchtete mit meinen Kakao ins Wohnzimmer.

„Naya, die Gründe haben denke ich blaue Haare und haben ungewöhnlich lange gebraucht, um sie mal eben kurz zu wecken“, hörte ich ihn nur frech sagen und der anschließend folgende Entsetzensschrei meines Bruders war durch die geschlossene Küchentür nur gedämpft zu vernehmen.

Ich grinste die anderen Entschuldigend an, die hoffentlich nur den Schrei meines Bruders und nicht die vorlauten Worte des anderen Beteiligten vernommen. Edeltraut und Mike blickten nur kurz auf, bevor sie sich wieder angeregt ihrem Gespräch zuwendeten, Freddy saß in der Mitte der beiden Hunde auf dem Teppich und hob amüsiert die Augenbraue.

Ein dämliches Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich räusperte mich rasch, um mich dann mit meinen Kakao auf einen der Sessel am Fenster zu setzen.

„Oh, eigentlich wollten meine Eltern im Gästezimmer schlafen…“

„Wir könnten Ihnen das Arbeitszimmer nochmal frisch beziehen. Du hast doch noch einen Matratzentopper, oder? Und ich schlaf dann heute Nacht einfach zu Hause, oder hier auf dem Sofa.“

Ich nicke und trinke zügig meinen Kakao aus, danach richte ich fix das Arbeitszimmer her, die Paar Wechselklamotten von Freddy schmeiße ich derweilen in mein Zimmer.

Gerade als ich eine zweite Decke sorgfältig zusammenfalte und auf dem Bett drapierte, klinge es an der Tür. Nachdem ich mir die Zeit für einen tiefen Atemzug genommen hatte, blickte ich hinaus aus dem Fenster. Der Schnee hatte seit gestern Abend nicht nachgelassen und im Hinterhof des Nachbargartens hatten die Kinder heute Morgen kleine Schneemänner gebaut. Lächelnd ging ich nach unten, wo meine Mutter sich gerade bei meinem Bruder über die schreckliche Fahrt beschwerte.

Ich blickte mich verstohlen um, doch konnte ich Leon bis jetzt nicht sehen.

„Jetzt kommt doch erstmal herein ins Wohnzimmer. Wir stellen euch die anderen Gäste vor“, sagte ich beschwichtigend und begrüßte meinen Vater mit einer kurzen Umarmung. Allen Anschein nach, hatte er noch ein wenig zugenommen und sein Bart wirkte etwas grauer als noch im Sommer zu seinem Geburtstag. Meine Mutter betrachtete meinen Pullover mit leicht offenem Mund, sie selbst trug neben einer feinen Cordhose, eine modische Bluse mit einem dazu passenden Blazer.

Als wir das Wohnzimmer betraten sahen alle Anwesenden auf und die Hunde liefen freudig den Neuankömmlingen entgegen. Während Henry sich damit begnügte kurz an den Hosenbeinen meiner Eltern zu schnuppern, sprang Törtchen fröhlich schnaufend an meinen Eltern hinauf. Das Schauspiel entlockte mir ein kichern und als mein Bruder hinter mir ins Zimmer trat, unterdrückte auch er ein Lachen. Nachdem Edeltraut ihren Hund zurückgerufen hatte, stellten sich alle einander vor.

Während meine Eltern bei Mike und Edeltraut noch einigermaßen höflich waren, entglitten ihnen bei Freddy nahezu die Gesichtszüge. Es schien als wollten sie etwas über seine Haare sagen, am liebsten wollte meine Mutter sich bestimmt direkt wieder aufregen, doch Ben räusperte sich und stellte sich neben Leon.

„Ich habe heute auch jemanden mitgebracht, denn ich euch gerne vorstellen würde. Das ist mein Freund Leon.“

Der Mund meines Vaters stand offen, während die Lippen meiner Mutter schmal wurden. Langsam zählte ich von dreißig abwärts, Leon stellte sich tapfer vor und versuchte es mit einem nervösen Lächeln. Gerade als die Stimmung zu kippen schien, sprang Freddy vom Boden auf und ging übertrieben fröhlich auf meinen Vater zu: „Karl, es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie beim Vornamen nenne? Ach was, kommen Sie und zeigen Sie mir wo ihr Gepäck ist. Ich trage es für Sie gerne hinauf ins Arbeitszimmer!“

Mein Vater ließ sich tatsächlich aus dem Zimmer bugsieren und bevor er aus dem Raum verschwand, warf Freddy mir noch einen auffordernden Blick zu. Luftholend schob ich meine Mutter nun sanft zum Esstisch, auf welchem bereits für Kaffee und Kuchen alles Nötige gedeckt war. Ben lächelte mir dankbar zu und drückte dann sanft Leons Schulter, der ein wenig wie ein bedröppelter Pudel dar stand. Sie wechselten ein Paar Worte, nach denen Leon schon wieder etwas lächelte, und setzten sich dann ebenfalls an den Tisch.

„Weihnachten mit Freunden ist ja auch netter…“, murmelte meine Mutter und setzte sich hin.

„Das sowieso, und wir sind alle unheimlich froh dieses Jahr in so illustrer Runde zu feiern, nicht wahr Mike?“, fragte Edeltraut und schenkte sich noch eine Schwarztee ein.

Jetzt wo langsam Ruhe eingekehrt war, ging ich in die Küche, um die vorbereitete Kanne Kaffee aufzugießen. Unzufrieden starrte ich auf den Wasserkocher. Natürlich war es nicht besonders nett von meinem Bruder ausgerechnet an einem so ausgedehnten Weihnachtsfest eine Nachricht zu verkünden, allerdings war das unhöfliche Schweigen meiner Eltern, bis hin zum Ausdruck der Missbilligung im Gesicht meiner Mutter, nun wirklich zu viel.

Ich erinnere mich, dass sie früher, wenn über Schule und deren rechte im Fernsehen berichtet wurde, auch meist eher bissige Kommentare dazu übrighatten. Jetzt verstand ich, wieso Ben es vorgezogen hatte niemanden davon zu erzählen.

Allerdings war er normalerweise der tadellose Sohn gewesen. Er hatte ein Studium als Arzt abgeschlossen und sich anschließend mit einer kleinen Praxis selbstständig gemacht, Unterstützung hatte er dabei von unserer Großmutter erhalten, welche als Eigentümerin der Praxisräumlichkeiten sie ihren Enkel großzügig zur Verfügung gestellt hatte.

Mein Germanistikstudium; dass ich anschließend nur nutzte, um zweitklassige Groschenromane zu schreiben, war ein ewiger Streitpunkt zwischen uns.

Arme schlangen sich sanft von hinten um mich und ein Kinn wurde auf meinem Kopf abgelegt.

„Dein Vater hat sich, glaube ich, beruhigt, er war wohl nicht überrumpelt von dieser Neuigkeit. Aber er scheint es gut wegzustecken. Aber er hat sich beschwert, dass er ins Arbeitszimmer ausquartiert wurde. Auf solch eine ungemütliche Schlafcouch. Das Wasser ist fertig.“

„Mhm…“, gab ich von mir und füllt langsam den Kaffee ein. Dieser Tag war jetzt schon völlig surreal und ein Teil von mir wünschte sich das langweilige, künstliche Familiendinner der letzten Jahre zurück. Als Freddy begann ein Weihnachtslied zu summen und leicht mit mir hin und her zu schunkeln, lächelte ich schon wieder über diese unsinnigen Gedanken.

Mein Leben war gut so wie es sich geändert hatte, ich schrieb meinen eigenen Roman. Ja, es war wieder ein historischer Liebesroman, doch diesen Mal war es keine 08/15-Geschichte ohne Tiefe. Alle Charaktere hatten eine eigene Persönlichkeit, es gab überraschende oder traurige Wendungen und das Ende stand für mich noch lange nicht fest.

Ohne dieses Chaos, welches jetzt gerade herrschte, hätte ich diesen Schritt niemals getan und wäre wahrscheinlich irgendwann zur Werbetexterin degradiert worden. Oder mein Chef hätte mich als Lektorin für talentiertere Autoren eingesetzt.

„Lass uns den Kaffee und Kuchen reinbringen, bevor noch irgendjemand was Dummes tut. Bin ich froh, wenn die Bescherung losgeht.“

„Was krieg ich denn?“, fragte Freddy, wie bereits die letzten drei Wochen. Ungefähr solange hatte ich nämlich ein großes Paket absichtlich auffällig ins Wohnzimmer gestellt. Eingepackt in Geschenkpapier mit Weihnachtsmützen-Gummienten-Aufdruck mit roter Schleife und Freddys Namen auf einem kleinen Pappschild. Es hatte mir Spaß gemacht zuzusehen, wie er wie ein kleiner Junge um das Paket rumgeschlichen war und es prüfend hochgehoben hatte. Seine Fragen dahingehen hatte ich alle ignoriert und ich versuchte auch jetzt nichts außer einem Lächeln als Antwortmöglichkeit zu geben.

Eskalation

„Wir waren ja schon etwas skeptisch, als Annabel uns darüber informierte, dass sie nun einen Untermieter hat. Sie hat ja keine Ahnung davon, welche Pflichten auf einen zukommen, wenn man Verantwortung als Mieter übernimmt“, verkündete meine Mutter und ich verdrehte die Augen. Wovon ich sonst alles noch keine Ahnung hatte, würde bestimmt auch noch Thema diesen Abend werden. Mike nickte nur bedächtig und erzählte dann ruhig wie gut es hier in unserer kleinen WG funktionierte und dass man mit einem standardisierten Untermietvertrag ja nicht viel falsch machen könne.

Obwohl meine Eltern deutlich jünger waren als er, schien er deutlich bemüht ihnen das Gefühl zu geben wichtig zu sein. Im letzten Monat hatte ich viel mit ihn über meine Familie geredet und versucht zurechtfertigen, wer ich war. Mike und ich hatten beide Probleme in der Nacht ruhig durchzuschlafen und trafen uns daher häufig nachts in der Küche, um noch einen warmen Kakao zu trinken. Anscheinend erinnerte er sich sehr genau, wie wenig umgänglich meine Eltern in meinen Augen waren.

Ich stopfte resignierte einen Keks nach dem anderen in meinen Mund und starrte auf den Baum, unter dem meine Eltern nun auch ihre Geschenke gelegt hatten. Die Geschenke waren professionell eingepackt und diese Ordnung wirkte fehl am Platz.

Ein wenig Sehnsüchtig starrte ich auf den kleinen bunten Haufen, in dem es auch Geschenke für mich gab. Ich wusste, dass sich so gut wieder jeder in diesen Raum Gedanken gemacht hatte, was der andere sich wünschen könnte und freute mich daher zum ersten Mal seit Langen auf Weihnachten.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als neben mir eine Kettensäge losging. Fluchend griff Freddy in seiner Hosentasche nach der Lärmquelle und entschuldigte sich, als er an das Telefon ging. Die letzten Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte als er ranging war: „Ja, Bigboss? Möchtest du mir alles Gute zu Weihnachten wünschen?“

Ich seufzte und hakte Freddy für den Rest des Abends ab. Er arbeitete in einem Altenheim hier um die Ecke und wenn sein Chef anrief, ging es meistens um Extraschichten, die er ableisten sollte. In der Woche in welcher wir uns kennengelernten, hatte er gerade zwei Wochen Urlaub am Stück und war am Wochenende trotzdem für zwei kurze Schichten eingesprungen. Freddy nahm es gelassen, denn sein Beruf machte ihm Spaß. Zudem war es fast unmöglich ihn zu etwas zu bringen, was er nicht wollte.

Tatsächlich steckte er kurze Zeit später seinen Kopf in die Tür, die Jacke schon im Arm und verkündete: „Hey, leider ist eine Kollegin krank geworden und mein Chef hat sonst niemanden.“

„Warte kurz!“, sagte ich und sprang auf. In der letzten Woche hatte ich überraschend viel Zeit mit dem Backen von Keksen verbracht und so standen nun überall volle Keksdosen rum. Sicherlich würde sich das Team und einige der Bewohner über ein paar frische Kekse freuen.

Ich stopfte zwei Dosen in einen Jutebeutel und hielt sie Freddy hin. Lächelnd drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und entschuldigte sich, dafür dass er nun ging. Aus einer Kommodenschublade zog ich den Ersatzschlüssel und steckte ihn in seine Jackentasche: „Komm einfach wieder, dann holen wir Morgen die Bescherung nach.“

Nachdem er mich noch für einen raschen Kuss herangezogen hatte, war er auch schon im Schnee verschwunden. Ich grinste über diesen rapiden Anstieg an Küssen. Verglichen zu den letzten Jahren war der heutige Tag quasi ein Durchbruch für meine eigene Statistik. Nach meinem letzten Freund am Anfang des Studiums hatte ich mich so weit wie möglich von allen ferngehalten was etwas mit Romantik oder körperlicher Nähe zu tun hatte. Jetzt gerade schien sich mein Herz jedoch zu fragen, wieso eigentlich.

„Ich sage es immer wieder, wenn die Leute nichts vernünftiges Lernen, dann müssen sie sich nicht über eine unzuverlässige Zeitplanung wundern“, meinte mein Vater kurze Zeit später, als ich knapp schilderte wieso ‚der junge Mann‘ den nun weg sei.

„Er ist Altenpfleger, sein Job ist nicht nur verantwortungsvoll, sondern auch noch mit harter Arbeit und einer Menge an benötigtem Wissen verbunden und er nimmt seinen Job ernster als so mancher von euren hochgeschätzten Freunden, die in irgendwelchen Vorständen sitzen“, giftete ich plötzlich drauf los und starrte meinen Vater zornig an.

Noch ehe dieser etwas erwidern konnte mischte sich tatsächlich mein Bruder ein: „Ohne so gut ausgebildete Kräfte könnte ich als Arzt meinen Job nicht machen. Ein guter Pfleger, der in der Lage ist, sich meinen ärztlichen Attesten gemäß auch zu Hause um den Patienten zu kümmern, verdanke ich meistens einen heilsamen Verlauf einer Krankheit bei älteren Leuten.“

„Naya, ich glaube da überbewertest du diese Leute ein wenig“, sagte meine Mutter schnippisch und ich seufzte hörbar auf, bevor ich mich demonstrativ zu meinem Bruder wandte und sagte: „Danke, aber vergiss es. Wie läuft es eigentlich in deiner Praxis?“

Meine Mutter schnappte nach Luft und ich hörte Mike belustigt glucksen.

„Es läuft richtig gut, besonders, seit ich einen wunderbaren neuen MTA habe, der mir die meiste Arbeit abnimmt. Obwohl er es nicht gerade leicht hat mit mir, nicht wahr Leon?“, meinte mein Bruder zwinkernd und Leon nickte eifrig. Anscheinend schienen meine Eltern nun wieder hellhörig zu werden.

„Also sind Sie ein Angestellter meines Sohns? Es ist immer schön, wenn sich eine freundschaftliche Basis in einem Betrieb aufbaut. Mein Sohn war schon immer sehr hilfsbereit. Es muss schön für sie sein nicht allein Feiern zu müssen, wenn Sie schon keine Familie haben, mit der Sie feiern können.“

Einen Moment lang starrte Leon meine Mutter verblüfft an, dann öffnete er tatsächlich den Mund und erwiderte in einem unheimlich ruhigen Tonfall: „Also eigentlich wollte ich dieses Weihnachtsfest nur endlich auch mal mit dem Mann verbringen, mit dem ich seit drei Jahren eine Beziehung führe. Und arbeiten tue ich bei ihm, weil mein vormaliger Chef in den Ruhestand gegangen ist und sein Nachfolger keinen schwulen MTA beschäftigen wollte.“

„Es war naheliegend und so konnten wir unsere Arbeitszeiten aufeinander abstimmen“, meinte mein Bruder in ebenso ruhigen Tonfall und ergriff dabei Leons Hand. „Ich fürchte ich habe mich vorhin nicht deutlich genug ausgedrückt, Mama. Leon ist nicht irgendein Freund und er hat eine große und herzliche Familie, mit der er feiern könnte, dieses Jahr wollten wir aber lieber gemeinsam sein. Ich liebe ihn und wir führen seit etwas mehr als drei Jahren eine vollwertige Beziehung. Ich denke sogar über eine Hochzeit nach, seit es in Deutschland tatsächlich die Ehe für alle gibt.“

„Was für ein Unsinn, Ben. Das ist nur eine Phase, wegen Sophia. Du warst am Boden zerstört, weil sie dich verlassen hat. Jetzt hast du dich da nur in sowas reingesteigert. Du bist ein ganz normaler Mann und nicht irgendein Perversling!“, zischte meine Mutter und ich tat in dem Moment das Einzige was mir Einfiel und keinen Mord beinhaltete.

„Verlasst sofort mein Haus!“, sagte ich laut und bestimmt.

„Wie redest du mit deiner Mutter?!“, begehrte mein Vater auf und stellte sich ebenfalls hin. Wir funkelten uns an und ich spürte die Enttäuschung in mir hochkriechen, die sich seit Jahren angesammelt hatte.

„Wie redet ihr mit eurem ältesten Sohn?!“, keifte ich zurück und zeigte auf meinen Bruder, der kreideweiß geworden war. Es war genau das eingetreten, wovor er sich gefürchtet hatte, doch ich würde nicht zulassen, dass ich wieder vor meinen Eltern den Kopf einzog.

„Das hier ist mein Haus, wenn ich mich in einen Punk verlieben will oder mein Bruder sich in einen Mann, dann ist das unsere Angelegenheit und sicherlich keine Phase! Wenn ich einen Untermieter in meine Wohnung aufnehmen will, bin ich sehr wohl in der Lage als erwachsene Frau einen Vertrag abzuschließen. Und wenn mein Bruder hier mit einer rosafarbenen Drag Queen aufgetaucht wäre, dann hättet ihr das ebenfalls zu akzeptieren und solange ihr das nicht könnt, seid ihr hier nicht mehr willkommen!“, die letzten Worte schrie ich geradezu meinen Eltern entgegen und tatsächlich rümpfte meine Mutter die Nase und verlies das Zimmer.

Mein Vater murmelte noch irgendwelche Worte über seine „missratene Brut“ und folgte ihr dann. Auch ich folgte Ihnen bis in den Flur, doch rannte dann nur die Treppe hinauf und stürmte in mein Zimmer.

Mit einem lauten Knall landete sowohl meine Zimmertür als auch die Eingangstür in ihren Rahmen. Bebend vor Zorn saß ich auf meinem Bett. Die gesamte Situation war innerhalb weniger Herzschläge komplett eskaliert und ich verstand immer noch nicht ganz, was gerade passiert war. Doch ich wusste, dass es richtig gewesen war. Ich dachte an den letzten Abend zurück und die Augenblicke, in denen mein Bruder sich unbeobachtet gefühlt hatte. Mit verträumtem Blick hatte er seinen Leon betrachtet und immer wieder zu grinsen angefangen, wenn dieser aufgesehen und ihn angestrahlt hatte.

Vielleicht verstand ich nicht viel davon, wie man Beziehungen führt, doch dass die beiden sich liebten, konnte sogar jemand ohne Gehör und Sehvermögen wahrnehmen.

Wenig später klopfte es an meiner Tür und ich blickte auf, als mein Bruder hereinschlüpfte. Er war allein und sah aus, als wäre er von einem Traktor überfahren worden. Er ließ sich neben mir auf das Bett sinken und nahm mich in den Arm, als ich mich an ihn lehnte. „Uff“, sagte ich und lächelte sogar ein wenig, als er mich etwas näher an ihn heranzog.

„Du hast dich also in einen Punker verliebt, hat er zufällig blaugrüne Haare?“, fragte mein Bruder mit einer Portion Galgenhumor in der Stimme. Trotzig antwortete ich: „Nein!“

Doch wir beide wussten, dass mein Ausbruch viel damit zu tun hatte, dass ich die geringschätzigen Worte über Freddy Beruf nicht ertragen hatte. Als dann auch noch mein Bruder angegriffen wurde, war bei mir einfach eine Sicherung durchgebrannt.

„Danke, Anni. Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Schwester inzwischen Erwachsen ist.“
Ich knuffte ihn in die Seite, bevor er jedoch fortfuhr und sagte: „Eigentlich hätte ich mich aufregen müssen. Sie haben ja schließlich mich angegriffen, aber plötzlich ist alles was ich befürchtet hatte, tatsächlich passiert. Ich dachte bei ihrem eigenen Sohn könnten Sie vielleicht erkennen, dass es nichts Abnormales ist. Liebe ist Liebe. Das habe ich irgendwann begriffen, aber auch, dass unsere Eltern nicht besonders flexibel in ihrer Weltsicht sind. Ich konnte vorhin nichts sagen, obwohl es nötig gewesen wäre.“

„Ich glaube die Botschaft ist trotzdem angekommen“, schniefte ich und wischte mir ein paar Tränen aus dem Gesicht.

Schöne Weihnacht

„Verschieben wir die Bescherung auf Morgen, wenn auch Freddy wieder da ist!“, beschloss Edeltraut, während sie den Tisch für das Abendbrot deckte. Sie war Pragmatikerin und hatte das Verhalten meiner Eltern nur als ‚barbarisch‘ bezeichnet. Mike war mit den Hunden spazieren, und hatte mir nur im Rausgehen noch zu gemurmelt, dass wir dringend einen Kakao trinken müssen. Und Leon hatte sich ebenfalls bei mir bedankt, er war leicht grün um die Nase.

Tatsächlich aßen wir schweigend und beendeten den Abend recht schnell. Uns allen waren die Erlebnisse auf die Stimmung geschlagen. Morgen würde sicherlich ein besserer Tag werden.
Später in der Nacht wurde ich wach, weil sich meine Zimmertür öffnete. Ich richtete mich auf und betrachtete Freddy, der hereingeschlüpft war. Er befreite sich aus seiner Arbeitskleidung und schlüpfte dann zu mir ins Bett. „Das sind ja ganz neue Anwandlungen“, meinte ich verschlafen.

„Soll ich gehen?“, fragte er und ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht aus seinem Tonfall heraushören. Statt einer Antwort schmiegte ich mich einfach an ihn an.

„Mike hat mich vorhin noch kurz angerufen und mir erzählt was passiert ist. Wie geht es dir?“

„Irgendwie bin ich zufrieden- Das klingt merkwürdig, oder?“, murmelte ich und drückte seine Schulter zurecht, bis ich bequem liegen konnte. Ich rümpfte die Nase, er roch nach Desinfektionsmittel.

„Überhaupt nicht, im Gegenteil. Dieses riesige Damokles Schwert, dass seit Jahren über deinem Kopf schwebte, ist nun weg. Du hattest immer Angst von deinen Eltern negativ beurteilt zu werden, nun hast du sie beurteilt und das auch eine höchst herzliche Art und Weise, wenn ich das hinzufügen darf.“

„Du darfst doch eh alles“, meinte ich gähnend und freute mich diebisch, als ich mit einer Hand meinen Weg unter sein Unterhemd fand. Er zuckte kurz zusammen, da meine Hand eiskalt war, doch blieb ruhig liegen. Ich seufzte zufrieden und machte die Augen wieder zu.

„Träum was Schönes“, meinte Freddy noch. Kurze Zeit später hörte ich wie sein Atem ruhiger und gleichmäßiger wurde, dann war ich auch wieder tief im Land der Träume.

Weihnachtlicher Kakao mit Sahne und bunten Streuseln.

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Von Kaffeehamster (Laura)

Ich bin eine Bloggerin, die sich mit Achtsamkeit und Schreiben beschäftigt. Zudem sind meine Depression und Adipositas, sowie mein spiritueller Weg fester Bestandteil meines Weges. Mit meinem Blog möchte ich Menschen helfen selbst ein achtsameres Leben zu führen und Mut machen über die eigenen Erkrankung und Beschränkungen hinaus zu gehen um ein glücklicheres und erfüllteres Leben zu führen. In meinen 30 Jahren habe ich schon einige Höhen und Tiefen hinter mir und freue mich stets in meiner Heimat Hamburg und bei meinem Mann wieder zur Ruhe zu kommen. Ich arbeite glücklich in der IT, doch möchte auf lange Sicht meinen Traum verfolgen von der Achtsamkeit und dem Schreiben leben zu können. Übrigens: Auf der "Über mich"-Seite findest du meine ZDE und meine BFFL!